Sie nahm ihr Kopftuch ab - und hatte Todesangst

Die Hintergründe zu dem Mädchen mit dem weißen Tuch, deren Bild um die Welt ging:
Setare, 25 (Name geändert), über ihren Protest:

"Ich nahm mein Kopftuch ab – und hatte Todesangst"

Als ich aus dem Haus ging, schlug mir das Herz bis zum Hals. Ich hatte Todesangst. Was passieren würde, war unberechenbar. Aber ich war auch gespannt und aufgeregt. Dann stieg ich auf die Bank, mein Kopftuch an einem Stock befestigt, und schwenkte es im Wind. Mein Herzklopfen wurde noch stärker.
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Das sind die Gefühle von Setare* – eine der Frauen in Teheran, Iran, die sich getraut haben, in der Öffentlichkeit gegen den Kopftuchzwang zu protestieren. Seit Anfang der Woche stellen sie sich auf Mauern, Stromkästen oder Bänke, einen Stock in der Hand, an dem ihr Kopftuch wie eine Fahne weht.

Seit Ende Dezember 2017 gehen viele junge Iraner auf die Straße. Begonnen hat der Protest im besonders frommen Maschad. Zunächst ging es nur um Lebensmittelpreise. Mittlerweile sind die Demonstranten vor allem wütend – auf die geistliche Führung im Land. Und die Frauen machen klar: Wir wollen selbst bestimmen, ob wir ein Kopftuch tragen oder nicht.
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Bisher wurden die Demonstrationen mit Gewalt niedergeschlagen, 3700 Menschen wurden festgenommen, mindestens 22 getötet. Auf den Straßen ist es seither etwas ruhiger geworden – doch die Forderungen der Aktivisten bleiben.
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Auch Setare ging in den vergangenen Tagen oft demonstrieren. Sie ist 25 Jahre alt und trug ein Kopftuch, seit sie ein Kind war. Bisher legte sie es in der Öffentlichkeit nicht ab, doch seit sich mehr und mehr Frauen in Iran trauen, auch ohne Bedeckung aus dem Haus zu gehen, geht auch Setare lockerer mit ihrem Tuch um. Wie viele legt sie es sich häufig nur auf die Schultern und zieht es erst über den Kopf, wenn sich die Polizei nähert.
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Ihre Familie und ihre Freunde unterstützen sie, sind sogar stolz auf sie. Sie weiß aber, dass das bei längst nicht allen so ist: "Ein Diktator kann auch zu Hause sein", sagt sie.
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Setare: Als ich aus dem Haus ging, schlug mir das Herz bis zum Hals

Nachdem die erste Frau ihr Kopftuch geschwenkt habe, hätten alle gesagt: "Was für eine kühne Tat!" Früher hätte sich das niemand getraut, erzählt Setare. "Wir finden diese Frau sehr mutig."

Das Video der ersten Anti-Kopftuchaktivistin entstand am "White Wednesday" in Teheran. Das ist bisher vor allem eine Internet-Aktion, gestartet im Mai 2017 von Masih Alinejad und ihrer Gruppe "My Stealthy Freedom". Kopftuch-Gegnerinnen sammeln seither Fotos von Frauen in weiß oder mit weißem Kopftuch als Zeichen des Protests.

Laut der Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotudeh handelt es sich bei der ersten Kopftuchschwenkerin um die 31-jährige Vida Movahed. Sie wurde kurzzeitig festgenommen – und anders als einige andere Frauen, die nach dem Schwenken ihres Hijabs ebenfalls festgenommen wurden, inzwischen wieder freigelassen.

Aufstände in Iran

Irans Jugend ist schon länger unzufrieden – sie fühlt sich durch die alten Männer im Wächterrat nicht mehr repräsentiert. 2009 kam es zur "Grünen Bewegung", einem vor allem von Akademikern in Teheran getragenen Protest.

Die nächsten Proteste gab es 2011. Wieder gingen vor allem Akademiker demonstrieren, dieses Mal motiviert durch den Arabischen Frühling in den Nachbarländern. Beide Bewegungen wurden jedoch niedergeschlagen, Dutzende Anführer festgenommen.

Die neue Protestbewegung ist anders: Sie wird von einer breiten Gruppe der Bevölkerung getragen. Und sie entzündet sich in vielen Städten, auch kleineren und sehr frommen Orten.

Noch wichtiger als die Initiatorin der Aktion seien die Frauen, die ihr folgten, sagt Setare: "Weil sie nicht zugelassen haben, dass die Aktion eine Einzeltat bleibt. Die zweite Frau, die ihr Kopftuch schwenkte, machte aus einer heldenhaften Tat eine zivile Bewegung."

Als Setare die Bilder der Frauen sah, die sich dieser Bewegung anschlossen, stellte sie fest: Die Proteste sind noch nicht vorbei.

Dann kam ihr Moment auf der Bank. Die Menschen um sie herum blieben stehen und sahen sie an. "Männer pfiffen mich aus, einer packte mich und versuchte, mich runterzuziehen. Ein anderer sagte, er stünde dem Regime zwar auch kritisch gegenüber, aber sich auf die Bank zu stellen sei nicht der richtige Weg", sagt Setare.

"Frauen und Mädchen waren verwundert, sie tuschelten. Einige lächelten und formten ihre Hände zum Victory-Zeichen. Die Taxifahrer waren total begeistert und lobten mich."

Frauenrechte in Iran

Nach einer halben Stunde Schwenken sah Setare, wie sich aus der Ferne ein Polizeiwagen näherte. Sie sprang von der Bank und rannte los.

"Wir wissen, sie sind zu allem fähig", sagt sie. Sie vermutet, dass Frauen sogar willkürlich von Mitgliedern der paramilitärischen Miliz verprügelt würden. Zum Schutz brauche die Bewegung dringend mehr Leute – "und ohne Männer lässt sie sich nicht fortsetzen", sagt Setare.

Doch den Willen, in ihrem Land etwas verändern zu wollen, verspürt Setare stärker denn je. "Wenn sich ein Staat in die Bekleidung der Leute einmischt, dann ist das die schlimmste Form der Diktatur."

Wir brauchen mehr Leute

Setare: Sie wolle sich auch künftig politisch engagieren, sagt sie – aber ob sie noch einmal ihr Kopftuch schwenkt, wisse sie noch nicht. Während sie auf der Bank stand, hätten Vorbeilaufende Fotos gemacht und sie im Internet geteilt. Einige Tage blieb Setare daraufhin zu Hause – aus Sorge, auf der Straße von der Polizei erkannt zu werden.

Inzwischen gehe sie wieder raus, doch immer schwanke sie zwischen Furcht und Hoffnung. "Sollte diese Bewegung scheitern, wird eine andere geboren", sagt sie. "Bald ist hier internationaler Frauentag. Vielleicht kommen dann noch mehr Frauen und auch mal Männer mit einem Stock und einem Tuch auf die Straße."

Frauen sind im Iran nicht gleichberechtigt. Bestimmte Berufe dürfen sie nicht ausüben, im Ehe- und Sorgerecht werden sie benachteiligt. Außerdem mussten Frauen in der Öffentlichkeit lange Zeit ein loses Kopftuch tragen – auch wenn es im Koran keine genaue Regelung gibt, wie sich Frauen bedecken sollen.

Das Kopftuchgesetz wurde jüngst gelockert, in Teheran werden Frauen nicht mehr festgenommen (bento). Es bleibt jedoch bestehen. Damit einher geht: Sicherheitskräfte können Frauen in der Öffentlichkeit so immer schikanieren und ihre Kleidung kontrollieren.

Bericht: Omid Rezaee

 

 

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