Golejach, die Eisblume

 

LESEPROBE

Golejach, die Eisblume
© Barbara Naziri

 

Weit von hier im Winterreich liegt der frostige Berg Damavand. Selbst im Sommer schmückt ihn eine Schneekrone. Meterhoch ragen die kristallklaren Eisspitzen in den Himmel empor und kein Sonnenstrahl vermag, sie zu schmelzen.

Tief in den Hallen des Berges lebte einst der Winterkönig Sardechan mit seiner einzigen Tochter Golejach. Seit ihm seine Königin gestorben war, hütete er sein Töchterlein wie einen Augapfel. Golejach hieß in der Wintersprache Eisblume und kein Name konnte ihr gerechter werden. Ihre Haut war weiß wie Alabaster und das Haar fiel ihr in fließenden Wellen bis auf die Hüften hinab. Glitten die fahlen Strahlen der Wintersonne darüber, glänzte es wie geputztes Silber. Schaute man in ihre Augen, so leuchteten sie wie klarer Bergkristall, und so rein wie Kristall war auch ihr Herz. Im Reich, das der Winterkönig Sarma nannte, war man stolz auf die schöne Eisprinzessin und wenn die Sarmaner ihre Kinder schalten, hieß es stets: „Nimm Dir ein Beispiel an Golejach. Sie bereitet ihrem Vater keinen Kummer.“ Man munkelte, wer sie einmal erblicke, könne sie niemals vergessen. Wenn sie mit ihren Schneejungfern über das Eis in den weiten Hallen schwebte und sich selbstvergessen im Reigen wiegte, war darin so viel Anmut, dass selbst ein Schmetterling sie beneidet hätte.

Eines Tages, als Sardechan durch seinen Eispalast schritt, hörte er ein Seufzen, das sich wie ein Echo an den Eiswänden entlang schlich. Als er die Ursache ergründen wollte, entdeckte er Golejach, die in Gedanken versunken mit ihren Glaspantöffelchen auf den Eisfliesen scharte. 

„Was bedrückt Dich, mein Töchterchen?“, fragte der besorgte König.

„Ach, mein lieber Vater, ich will nicht undankbar sein. Ich lebe mit Dir in einem Palast, in dem mir jeder Diener und jede Jungfer meine Wünsche von den Augen ablesen. Doch fehlen mir Geschwister, um mit ihnen die Zeit zu teilen. Trotz meiner Jungfern fühle ich mich einsam.“

„Wenn es nur das ist“, sagte Sardechan, „kann ich Abhilfe schaffen. Ich werde einen Ball geben und die Jahreszeiten mit ihren Kindern dazu einladen. Sie können die dunklen Monate bei uns verbringen, denn da herrsche ich und die anderen ruhen. Ich denke, die Abwechslung wird sie erfreuen.“

Sofort schickte er seine Boten mit ihren Rentierschlitten aus, um die Gäste abzuholen. Bald darauf herrschte ein munteres Treiben. Zuerst erschien der Frühling mit seinen Töchtern, ihm folgte der Sommer mit seinen wilden Söhnen und bald darauf traf der Herbst ein, der sogar seine Enkelkinder mitgebracht hatte. In ihren bunten Blätterkleidern wirbelten sie umher, schlitterten über das glatte Eisparkett und erfüllten die stillen Hallen mit fröhlichem Leben. Golejach wandelte zwischen ihnen und das Glück darüber ließ ihr Gesicht leuchten. Tir, der älteste Sohn des Sommers, stand abseits. Er war ein stattlicher Bursche mit einer Haut wie Milchkaffee und aus seinen schwarzen Flechten, die ihm bis auf die Schultern reichten, lugten hie und da ein paar Mohnblumen hervor. Tir war der Stillste unter seinen Brüdern. Wenn sie mit ihren wilden Pferden über die Steppe ritten oder die Karawanen der Beduinen durch die Wüste begleiteten, lag er in den Blumenwiesen und hielt Zwiesprache mit Vögeln und Schmetterlingen. Er schrieb ihnen Gedichte, und alle Blumen liebten ihn, weil er keine darin ausließ. Nun hing sein Blick an der lichten Gestalt der Eisprinzessin, die sich in den schwarzen Kirschen seiner Augen widerspiegelte. Ausgelassen tanzte sie mit den Frühlingstöchtern und seinen Brüdern einen Reigen und die Zeit war schon fortgeschritten, bis er sich endlich ein Herz fasste und Golejach um einen Tanz bat. 
Die Eisprinzessin hatte den fremden Prinzen schon eine Zeitlang beobachtet und bedauerte insgeheim, dass er dem fröhlichen Treiben fernblieb. Wie erfreut war sie nun, als er ihr in den Reigen folgte. Kaum berührten sich ihre Hände, da hatten sie nur noch Augen füreinander. Sie schwebten über den Eisspiegel und ihr Tanz war so anmutig, dass alle anderen innehielten, um ihnen zuzuschauen. Als die Musikanten müde wurden und der Abend sich dem Ende neigte, nahm Tir eine Mohnblüte aus seinen Flechten und steckte sie Golejach in ihr Silberhaar. Im gleichen Moment verlor die Blume ihre rote Farbe, eine Frostschicht legte sich auf die Blütenblätter und sie wurde zu einer Eisblume, die nun wie ein Diamant im Haar von Golejach glänzte. Von Stund an waren Tir und Golejach unzertrennlich.
 Sardechan erkannte bald, dass die beiden mehr miteinander verband, und tiefe Sorge überkam ihn. Eines Tages rief er sie zu sich.„Ich weiß, wie es um euch steht“, hub er an. „Selbst ein Blinder spürt, dass ihr einander zugetan seid
."
„Ja, Vater“, erwiderte Golejach, „ich liebe den Sommerprinzen Tir. Bin ich auch eine Eisprinzessin, so fühle ich mich in seiner Nähe wie ein duftende Blume.“
Und Tir kniete vor dem Winterkönig nieder. „Sarde Chan, ich bitte Dich um die Hand Deiner Tochter. Ich verspreche, es ihr an nichts fehlen zu lassen.“
Sarde Chan erhob sich mit einer tiefen Unmutsfalte auf der Stirn. „Wie kannst Du dieses Versprechen je einlösen?“, donnerte er. „Wir leben im Eisreich Zarma, immer unter der Bedrohung durch die Sonne und ihrer Wärme. Du aber bist der Sohn des Sommers.“
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Barbara Naziri
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