Flüchtlinge in der Psychiatrie - ein Hilferuf

Flüchtlinge in der Psychiatrie - Ein Hilferuf

Ein Trauma erwacht zum Leben. Verzerrte Bilder formen sich zu Horrorszenarien. Bilder zerfetzter Körperteile, tote Menschen. Der nach Zwiebeln stinkende Atem des Folterers, Menschen, aufgehängt an Kränen, wie Puppen mit starrem Blick. Diese Bilder lassen sich nicht löschen. Sie sind unwiderruflich ins Hirn gebrannt, lassen sich nicht mehr vertreiben. Fort – nur fort von alledem. Doch wohin? Hier gibt es keinen Schutz und der Weg zurück führt ins Verderben.

Menschen, die mit diesen Traumata bei uns landen, haben schwere psychische Probleme. Viele unter ihnen sind suizidgefährdet, ausgelöst durch panische Angst und Verzweiflung, zurückkehren zu müssen in das Grauen, aus dem sie kamen. Im Flüchtlingsheim häufen sich Vorfälle von Gewalt, vor allem gegen sich selbst, weil die Betroffenen mit ihrem Trauma nicht mehr fertig werden. Zudem haben sie ihr Wertegefühl verloren und tun sich darum selbst Gewalt an, indem sie ihren Körper malträtieren, sich also bestrafen für etwas, was sie nicht verbrochen haben.

Das führt dazu, dass sie in die Psychiatrie eingewiesen werden. Die medizinische Versorgung in unserem Land obliegt der ärztlichen Schweigepflicht. Es gilt, den Einzelnen zu schützen. Darum dringt kaum ein Wort aus den Kliniken, in denen traumatisierte Flüchtlinge behandelt werden. Der Gedanke geht mir nicht aus dem Kopf: Ist dieser Schutz nicht auch zugleich eine Art Freibrief für Politik und Ämter, weniger aktiv zu werden? In der stationären Behandlung erfahren Flüchtlinge zwar Hilfe und Unterstützung, doch Ärzte und Pfleger sind mit der Situation überfordert, zum einen, weil zu wenig Pflegepersonal vorhanden ist, zum anderen können sie an der Situation der Flüchtlinge nichts ändern. Die Behandlung in der Psychiatrie ist keine Grundlage dafür, dass Flüchtlinge nicht abgeschoben werden. In dieser Hinsicht unterscheidet sich ihre Situation gravierend von den übrigen Psychiatriefällen, bei denen stets der Versuch besteht, Missstände zu beheben.

Tagtäglich stehen Pflegepersonal und Ärzte dieser Situation menschlichen Elends gegenüber. Und das perlt keineswegs an ihnen ab und seelisch haben nicht wenige schwer daran zu tragen. Doch weil sie der Schweigepflicht unterliegen, dringt kaum nach außen, welche Dramen sich tagtäglich hinter verschlossenen Türen abspielen. Dem Druck standzuhalten, diese traumatisierten Menschen vor sich selbst zu schützen, erfordert immense Kraft und nicht wenige fühlen sich damit von Behörden und Politik allein gelassen. Darum wandte sich aus der Pflegschaft eine Person, die selbstverständlich anonym bleiben möchte und die ich einfach mal Toni nenne, mit der Bitte an mich, ihre Erfahrungen öffentlich zu machen.

B.N: Wann kommen Flüchtlinge allgemein in die Psychiatrie? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein?

Toni: Die meisten Flüchtlinge kommen mit schweren posttraumatischen Belastungsstörungen. Nicht alle werden in die Geschlossene eingewiesen. Dorthin werden vorwiegend Flüchtlinge eingewiesen, die im Flüchtlingsheim einen Selbstmordversuch begangen haben oder aber einen solchen angekündigt haben, etwa in dem Tenor: „Wenn ihr mich abschiebt, bringe ich mich um!“ Das will man natürlich verhindern. Sobald das glaubwürdig erscheint, werden sie in die Psychiatrie gebracht. Man will ja nicht zulassen, dass jemand sich aus Angst umbringt. Oft haben Flüchtlinge wirklich so ein großes Trauma erlebt, indem sie fremdaggressiv reagieren und Dinge oder Möbel kaputtschlagen, also richtig Randale machen. Dann wird die Polizei gerufen und die entscheidet dann, ist das ein Böser, oder zerstört der gerade das Mobiliar, weil er abgeschoben werden soll oder sein Widerspruch abgelehnt wurde. Ist das also jemand, der auch anderen Böses will oder jemand, der nur sich selbst verletzt? Das erkennt man schnell daran, dass sie andere nicht angreifen wollen, sondern dass sich die ganze Aggression gegen sie selbst richtet – aus Wut, aus Angst, aus Verzweiflung. Dann werden diese Menschen nicht ins Gefängnis gebracht, sondern in die Psychiatrie eingewiesen.

B.N: Wie wird mit ihnen in der Psychiatrie verfahren? Kannst Du da Beispiele nennen?

Toni: „Das Schlimmste, was ich bisher erlebt habe, ist, dass sich Flüchtlinge, die bei uns eingeliefert wurden, mit einer ungeheuren Vehemenz verletzten. Letztens hatten wir wieder so einen Fall. Der Mann sollte abgeschoben werden und auch seinem Widerspruch war nicht stattgegeben worden. Er hatte also gar nichts mehr. Während seines Aufenthalts schlug er plötzlich wie ein Wilder mit den Fäusten gegen die Wand, dann mit dem Kopf und das mit einer solchen Verzweiflung, dass ich glaubte, das Knacken der Knochen zu hören. Dank dem schnellen Eingreifen eines Pflegers konnte er davon abgehalten werden, sich noch schlimmer zu verletzen. Dieser brachte ihn mit festem Griff in sein Zimmer. Doch dort rastete der Mann wieder aus und schlug mit dem Kopf mehrfach gegen die Wand und die Tischkante. Aufgrund seiner aggressiven Selbstzerstörungsgesinnung bedeutete das für uns die Verpflichtung, ihn bewegungsunfähig zu machen. Wie es uns dabei ging, diesen verzweifelten Mann zu fesseln, ihn also zu fixieren, damit er sich nicht noch weiter verletzt, steht auf einem anderen Blatt Papier. Wie so ein Mensch dann gefesselt vor einem liegt, erlebt er sein Retrauma. Er wird also noch einmal in die Situation versetzt, in der ihm Gewalt angetan wurde. Vielleicht wurde er im Gefängnis gefoltert, wobei man ihn auch augenscheinlich fixierte. Wenn ich das sehe, packt mich ein megaschlechtes Gewissen aufgrund der auferlegten Schweigepflicht.

B.N: Handelt es sich hierbei vorwiegend um Flüchtlinge, die abgeschoben werden sollen?

Toni: Meistens wissen wir, dass sie einen Abschiebebescheid haben. Das Warum bleibt uns verborgen. Vorwiegend scheitern wir an der Sprachbarriere, diesen Flüchtlingen klarzumachen, dass wir ihnen nichts Böses wollen. Und dann stellt sich immer wieder die Frage: Sind es politische Flüchtlinge oder sind sie aus anderen Gründen hier? Doch was spielt das für eine Rolle? Bevor sie in ihr Land zurückkehren müssen, würden sie sich lieber töten. Das ist die Realität. So hört auch hier in der Klinik ihre Zerstörungswut nicht auf. Manchmal zerstören sie das Zimmer, in das sie verbracht werden, oder fügen sich selbst weitere Verletzungen zu.

B.N: Wie läuft die Kommunikation zwischen Medizinern und Flüchtlingen? Die Menschen sind doch zumeist nur kurz hier und beherrschen die deutsche Sprache schwerlich.

Toni: Durch Gestik und Verhalten erfahren wir nur Bruchstücke. Manche trauen sich auch gar nicht, sich zu artikulieren. Mitunter schämen sie sich sogar, etwas über ihre fürchterlichen Erlebnisse preiszugeben. So stehen wir oft nur vor Halbwahrheiten. Es gibt ja für die Seele kein Röntgenbild. Zur Kommunikation holen wir uns die entsprechenden Dolmetscher in die Klinik. Da kommt eine neue Schwierigkeit. Es gibt ja bestimmte Tagessätze für Patienten. Ein Dolmetscher kostet. Und müsste wir jeden Tag einen holen, dann verschlingt das schon mal den Tagessatz eines Patienten. Dolmetscher werden ja von der Klinik bezahlt. Aber eigentlich kann sich das keine Klinik wirklich leisten, täglich einen Dolmetscher zu bestellen, es sei denn, wenn es ganz schlimm wird. Oder aber wenn es Visiten gibt, damit die Verständigung überhaupt klappt.

B.N: Wie geht ihr als Pflegepersonal und Ärzte eigentlich damit um? Hinterlassen solche Vorkommnisse bei euch Spuren?

Toni: Aber natürlich. Wir sind ja nicht die Verursacher des Leids, müssen aber die Konsequenzen tragen. Was wir als Pfleger, Schwestern und Ärzte hier teilweise leisten und erleben müssen, darüber ist sich die Politik überhaupt nicht im Klaren. Wenn man jemanden festhalten und fixieren muss, weil er sich sonst verletzt oder sich schlimmstenfalls umbringen könnte, werden auch Pfleger und Schwestern verletzt aufgrund der Aggression, meist ausgelöst durch die Sprachbarriere. In ihrer Verzweiflung denken Patienten ja gar nicht darüber nach, dass wir doch nur helfen wollen. Manchmal sickert was durch in den Medien und die Masse ist dann darüber empört. Aber keiner denkt darüber nach, wie verzweifelt diese Menschen sind. Wir können dieses Leid, das denen widerfuhr, überhaupt nicht ermessen. Wir leben hier so satt und so zufrieden – könnten zumindest so leben. Aber viele sind unzufrieden und verstehen nicht, was das heißt, alles zu verlieren. Oder wenn ein Patient über sich reden soll und sich das gar nicht traut und während einer Visite den Dolmetscher fast 10 Minuten lang anbettelt, er solle uns doch bitten, dass wir ihn nicht hauen und quälen und vor allen Dingen nicht fesseln sollen… das ähm… das kann man wirklich kaum ertragen. Mich hat das zutiefst berührt. Das war wirklich ganz schlimm. Tja, wir sind nicht für die Gerechtigkeit zuständig. Hier können wirklich nur noch Anwälte und Seelsorger helfen, die mit den Dolmetschern zusammenarbeiten. Gerade die Seelsorger sind da auch sehr bemüht. Natürlich unterliegen auch sie der Schweigepflicht und wir müssen immer schauen, dass die Flüchtlinge damit einverstanden sind, ob ihre Geschichten an die Öffentlichkeit dürfen.

B.N: Hattet ihr auch mit Folteropfern zu tun?

Toni: Davon gehen wir aus. Es gab körperliche Spuren von Gewalt. Narben an den Schienenbeinen, auf dem Rücken und anderen Körperstellen.

B.N: Solche Gepflogenheiten kenne ich aus dem Iran. Auspeitschungen sind dort nicht selten. Ich selbst habe 2009 erlebt wie zwei Pasdaran, das sind die Schergen der Mullahregierung, einer jungen Frau mit einem Knüppel gegen die Schienbeine schlugen, sodass sie schreiend zusammenbrach. Ein junger Mann kam ihr zu Hilfe. Sie packten ihn und schlugen seinen Kopf gegen eine Betonmauer. Es gab ein knackendes Geräusch und dann sah ich nur Blut. Ich wurde von meinen Verwandten weggezogen. Sie hatten Angst, wir könnten als Zeugen die nächsten Opfer werden. Die Pasdaran kennen da kein Pardon und sind gut bewaffnet.

Toni: Ich kann mir gut vorstellen, dass ein Mensch, der wieder in seine Heimat muss, sich so schwer verletzt und so zerstört. Das allein macht die Flüchtlinge schon glaubwürdig.

B.N: So ist es. Was mancher alltäglich erleben musste, übersteigt die Angst um sich selbst, denn oft herrscht Sippenhaft und die lässt man gern an der Familie aus.

Toni: Ich frage mich, was das für Konsequenzen hat. Das geht doch so auf die Seele. Was ist das für ein Staat, der oberflächlich über die Schicksale der Menschen entscheidet, sie einfach wieder dorthin abzuschieben, wo ihnen so viel Leid geschehen ist. Wie ist es möglich, dass so wenig Interesse herrscht, wirklich zu ergründen, welche Gefahren damit verbunden sind. Ich denke, das muss alles viel gründlicher geprüft werden. Das muss dringend passieren, damit wir solche Menschen nicht in den Tod treiben.

B.N: Leider ist das ein Phänomen, das uns schon seit Jahrzehnten begleitet. Asyl war ein Menschenrecht in Deutschland. Das Wort Asylant ist zum Schimpfwort mutiert von einer Neid- und Besitzstandsgesellschaft, die gerne Ängste schürt, was bis hoch in die Politik geht. Das Grundgesetz gilt längst nicht mehr für alle Menschen. Es gibt hier immer welche, die gleicher sind. Und das Ausländergesetz – 1991 neu geschaffen und abgesegnet – hat endgültig zur Aushöhlung des Grundgesetzes beigetragen. Ich selbst habe in den 1980er Jahren jahrzehntelang Flüchtlinge betreut. In dieser Zeitspanne geschahen auch Suizide in Heimen. Das war damals nicht mal eine Pressemeldung wert. – Hast Du ein Anliegen, nachdem, was Du mir erzählt hast?

Toni: Die Fixierung ist ein großer Eingriff in die Freiheit. Sie führt beispielsweise bei Menschen, die schon durch die Hölle gegangen sind, zu einer Retraumatisierung. Darüber hinaus ist die Fixierung menschenunwürdig, egal, woher die Menschen stammen. Und es ist das allerletzte Mittel, das man in der Psychiatrie anwenden möchte, denn es ist Freiheitsberaubung im schlimmsten Stil. Damit geht es allen schlecht, sowohl den Patienten als auch dem Klinikpersonal. Zwar wird darüber viel gesprochen und versucht, diesen Zustand so kurz wie möglich zu halten. Doch da macht sich dann auch der große Personalmangel in den Kliniken bemerkbar. Hier müsste eins zu eins begleitet werden. Da fehlt es einfach an Begleitung.

Außerhalb gibt es Vereine, die sich aber fast allesamt selber tragen und darum auch begrenzt zur Verfügung stehen, weil sie auf Spenden angewiesen sind. Wir schauen natürlich auch in den Kliniken danach, ob wir dann die Patienten dorthin schicken können, damit ihnen auch da Unterstützung widerfährt. Ich hoffe auf eine menschlichere Politik. –

***

So ist letztendlich die Politik gefragt. Doch inwieweit können wir uns auf sie verlassen? Heutzutage spielt sich das Leben, auch das politische, vorrangig im Netz ab. Das Netz quillt über von Schmähungen und Hetzreden potentieller Wähler. So entsteht der Eindruck immer mehr, dass sich die Fahne der Politiker nach dem Wind richtet, der ihnen aus manchen Bevölkerungsschichten ziemlich braun entgegenweht. Denn dort finden wir die lautesten Schreier. „Mensch, der hat ja ein Handy! So schlecht kann es ihm nicht gehen!“ Oder „Der will hier auf unsere Kosten leben, nichts tun, aber sich ein teures Auto leisten, vielleicht sogar ein Haus.“ Wenn wir all die Attribute weglassen und nur das Wort „leben“ übrig bleibt, dann bin ich einverstanden. Menschen, die schon alles verloren haben – letztendlich um ihre Würde kämpfen – haben nichts mehr zu verlieren. Muss oder kann es so schwierig sein, ihnen ein sicheres Leben zuzugestehen?

***

© Barbara Naziri
8. August 2018

Nach oben