Das Verlangen nach dem Garten verlässt nie das Herz der Nachtigall

Ausschnitt Kapitel 2:
„Das Verlangen nach dem Garten verlässt nie das Herz der Nachtigall“ (1986)

Wie eine nimmersatte Raupe nagt die Sorge an mir und frisst jeden klaren Gedanken. Seit Wochen sind die Telefonleitungen in den Iran blockiert und Briefe verschwinden im Nirwana. Warten. Immerzu warten. Dafür meldet sich die Presse. Mit ihrer unerschöpflichen Flut an Horrormeldungen schürt sie meine Ängste. Auf dem Heimweg von der Uni lese ich die fetten Überschriften im Abendblatt: „Teheraner Flughafen bombardiert“ und „Wieder Hinrichtungen im Iran.“ Ich will nur noch weg.

Zu Hause schalte ich den Samowar ein. Ein kräftiger Tee wird den müden Dschinn[1] in mir beleben. Der Samowar beginnt zu summen. Im Geiste sehe ich Aghadjan vor mir, wie er lächelnd sagt: „Blümchen, du musst nicht erst sterben, um ins Paradies zu gelangen, solange du einen Garten hast und eine Tasse Tee in deinen Händen hältst.“ Sinnend betrachte ich die goldgelbe Flüssigkeit in meiner dampfenden Tasse und schließe für einen Moment die Augen. Das feine Aroma von Zimt und Koriander beruhigt meine Sinne. Es trägt mich weit fort über Steppen, Wüsten und Berge direkt in einen Sonnenaufgang. Kindheitserinnerungen schweben wie Schmetterlinge auf mich nieder. Ich sehe mich im Garten zu Füßen meines Vaters sitzen und andächtig seinen Geschichten lauschen. Bis heute trage ich sie in mir wie einen kostbaren Schatz. Ich vermeine den süßen Duft der Rosen wahrzunehmen, das unermüdliche Gezwitscher der Spatzen in dem großen Baum vor unserem Haus. Von fern erklingt das Spiel der Straßenmusikanten, ein Melonenverkäufer zieht vorüber und preist lautstark seine Ware an.  

 

Lautes Klingeln reißt mich aus meinen Träumen. Widerwillig erhebe ich mich. Der Postbote hält mir lächelnd einen Eilbrief unter die Nase. „Gute Nachricht?“, höre ich ihn fragen. „Kommt ja von ziemlich weit her.“ Ich blicke auf die vertraute Schrift und mein Herzschlag verdoppelt sich. Endlich! Eine Nachricht aus dem Iran! Die Klammer um mein Herz löst sich. Mit bebenden Händen reiße ich den Umschlag auf, lese wieder und wieder die Zeilen: „Barydjan, meine liebste Freundin, delam baraye to cheyli tang schodeich vermisse dich so sehr. Der Krieg mit seinen Schrecken ist zahnlos geworden. Die Kämpfer sind müde, und wir sind es auch. Das Land wird ruhiger. Jeder kämpft für sich, doch nicht mit der Waffe, sondern um Brot und Käse. Die Freude ist in diesen dunklen Tagen gewichen, nicht aber die Hoffnung. Bary, wir haben uns so lange nicht gesehen. Darum habe ich nur den einen Wunsch: Komm in den Sommerferien hierher. Lass uns nach Schirāz und Isfahan reisen. Lass uns fröhlich sein. Bitte, zögere nicht lange, komm nach Karadsch ... In der Hoffnung, dich bald zu sehen. Mahvasch.“ Eine offizielle Einladung liegt bei. Tief in mir höre ich ein Flüstern: „Zauderst du etwa?“ Sehnsucht kriecht in mir empor, klopft an mein Herz und wispert verschwörerisch: „Vermisst du nicht die Freunde, den warmen Klang der Sprache, selbst die trockene, staubige Erde? Sind nicht tief darin auch deine Wurzeln vergraben? Was ist mit den blumenlosen Gräbern, über die leise der Wind streicht? Warten nicht auch die Toten darauf, dass du ihrer gedenkst? Wie lange noch willst du zaudern und in diesem sonnenarmen Land für einen Sonnentag zehn Regentage hinnehmen? Komm schon! Beweg dich!’“

 

Wahrhaftig habe ich stets auf ein Wunder gewartet, auf einen befreiten Iran. Aber die Zeit verfloss und das Wunder blieb aus. Nun werde ich fliegen, auch wenn mich die Familie für verrückt hält. Sorgen bereitet mir nur mein deutscher Pass. Er könnte mir zum Hindernis werden. Noch herrscht Krieg im Iran und die Folgen der Revolution kann ich nicht einschätzen.

Bilder werden lebendig. Die Revolution! Das Wort schmolz uns wie Schokolade auf der Zunge. Wie hoch waren unsere Erwartungen, wie groß unsere Begeisterung. Wir freuten uns wie die Kinder über die Vertreibung der Besatzer und die Verbannung des selbstverliebten Schahs, die gemeinsam das Land drangsaliert hatten. Ich hing, ja, ich klebte förmlich mit meinen Freunden an der Mattscheibe, um jede Neuigkeit aus dem Iran begierig zu verschlingen und jubelnd zu verbreiten. Bei jeder neuen Nachricht waren unsere Hände feucht vor Aufregung. Als der Despot 1979 stürzte und das Land verließ, fielen wir uns jubelnd in die Arme. Die Exil-Iraner, Männer wie Frauen, schöpften neue Hoffnung. Heimkehren! Wie verheißungsvoll das klang. Bei dem Gedanken, der Umsturz brächte endlich die Demokratie zum Erblühen, haben wir von innen geleuchtet. Aufgeregt diskutierten wir nächtelang. Einige von uns saßen bereits auf gepackten Koffern.

Was waren wir doch naiv. Die Versprechungen wurden in einem einzigen Moment gebrochen. Als Chomeini iranischen Boden betrat und ihn ein Reporter fragte, was er nach so vielen Jahren empfinde, wieder in der Heimat zu sein, antwortete er nur ein Wort: „Nichts!“ Dieses Nichts stach jeden von uns ins Herz. Die Macht ist eine gefährliche Verführerin, Chomeini wollte nicht nur den Schah stürzen, sondern er begehrte das Welajah Faghieh, die uneingeschränkte Macht über Millionen von Menschen. Hätte er seine Absichten aufrichtig kundgetan, wären seine Chancen, in den Iran zurückzukehren, gleich Null gewesen.

Die Islamische Revolution, unser aller Hoffnungsträger, entpuppte sich als großes Fiasko. Statt der versprochenen Freiheit zwangen die Mullahs das Land endgültig in die Knie und machten die Menschen zu Sklaven. Die Zuversicht, die in den Herzen der Bevölkerung erblühte, peitschten sie mit roher Gewalt und religiösen Phrasen aus. Das Land wurde zum Gefängnis, in dem jede freie Stimme wie ein Wurm zertreten wurde. Die Menschen flohen in Scharen, unter ihnen auch jene, die freudig aus dem Exil heimgeeilt waren, um teilzunehmen an einem neuen Iran. Sie kehrten entsetzt zurück mit dem schmerzlichen Gedanken, die Heimat ein zweites Mal verloren zu haben.

In dieser Zeit besann ich mich auf meine Wurzeln. Ich bot Flüchtlingen meine Hilfe an, indem ich sie durch den deutschen Bürokratiedschungel schleuste, soweit ich es vermochte, und zu ihrem Sprachrohr wurde, indem ich übersetzte. Hierdurch erfuhr ich von manchem Leid. Nichts berührt einen Menschen so sehr wie das Einzelschicksal, wodurch das Erlebte ein Gesicht bekommt.

Madjid war eines von ihnen. Er beeindruckte mich vom ersten Moment an. Ein hochgewachsener Mann, der düster und asketisch wirkte. Nie sah ich ein Lächeln auf seinen Lippen und der Blick seiner schwarzen Augen blieb nach innen gerichtet. Er lebte zurückgezogen in seiner eigenen Welt wie in einem Schneckenhaus, in das er niemanden einließ. Doch einmal, als wir zusammensaßen, erzählte ich ihm von meinem Großvater, der im Gefängnis umgekommen war. Ein hoher Preis für die Freiheit. Da brach die Fassade. Unter Tränen erzählte er mir in knappen Worten von seinem Schicksal: „Schon bald nach Beginn der Revolution erkannte ich ihre verheerenden Auswirkungen und schloss mich einer Widerstandsgruppe an. Ich nahm kein Blatt vor den Mund und richtete meine Kritik auch öffentlich an das Mullah-Regime. Die Antwort kam prompt. Der Pöbel brannte mein Geschäft nieder. Doch damit nicht genug. Freunde erfuhren von meiner bevorstehenden Verhaftung durch das Revolutionskomitee und eilten zu mir, um mich zu warnen. Ich packte das Nötigste und floh noch in der gleichen Nacht mit Frau und Tochter über den Persischen Golf. Das Boot, ein sogenannter Seelenfänger, kenterte in der Dunkelheit auf offener See. Viele Flüchtlinge ertranken in den Fluten oder fielen den Haien zum Opfer. Ich sah mit eigenen Augen meine Frau und meine Tochter sterben, hörte ihre verzweifelten Schreie. Sag mir, Bary, wie kann ich weiterleben? Wie? Ich bin nur Hülle, innerlich gestorben. Seit diesem Tage trage ich Trauer in Erinnerung an mein verlorenes Glück.“

Menschen, wie ihn, traf ich viele. Entwurzelt und haltlos wie welkes Laub, das niemand mehr haben wollte. Unermüdlich könnte ich Glied für Glied an diese Schicksalskette reihen, die auch an mir ihre Spuren hinterließ. Mir ging es schlecht. Ich konnte wenig tun und zweifelte auch am hiesigen System, das untätig zusah und sogar noch in Waffenschiebereien verwickelt war. Plötzlich begann ich, mich selbst in Deutschland als Fremde zu fühlen, mich in Frage zu stellen, obwohl ich hier aufgewachsen war.

Lag es daran, weil in mir zwei Seelen leben? Zum einen hatte mich mein deutsches Umfeld bodenständig gemacht. Zum anderen kämpfte meine orientalische Seite, emotional und überschwänglich, um ihren Platz. Beide prägten mich und gehören unweigerlich zusammen. Wie charakterisierst du eine Iranerin, fragte mich einmal ein Freund. Gespalten, antwortete ich spontan. Modern und zugleich konservativ. Modern, weil sie bereit ist, in vielerlei Hinsicht mit der Zeit zu gehen und ein starkes Selbstbewusstsein entwickelt hat. Konservativ, weil sie sich den Traditionen verbunden und in ihnen verwurzelt fühlt und sich nicht ohne Weiteres aus ihnen lösen kann.

Die Situation im Iran wurde immer bedrohlicher. Nicht nur die Revolution, sondern auch der Krieg gegen den Irak, den das Nachbarland ein Jahr nach der Revolution begonnen hatte, wurde zum Menschenfresser. Verbindungen, die uns Informationen lieferten, wurden ständig gekappt oder unterbrochen, Familien auseinandergerissen. Die gemeinsame Sorge schweißte uns zusammen. Irgendjemand organisierte einen großen Raum. Wir trafen uns wöchentlich, um ein wenig unsere Kultur zu leben, in der wir Halt zu finden hofften. Es wurde geredet, gekocht und getanzt. Manchmal wurde das Licht ausgeschaltet und wenn wir mit der Dunkelheit verschmolzen, sangen wir Widerstandslieder und gaben uns ganz unserem Schmerz hin. Die gemeinsame Trauer einte und stärkte uns mehr als alles andere. Aus den Schatten der Vergangenheit tauchte plötzlich ein altes Lied wieder auf, entstanden aus dem Brief eines Todeskandidaten an seine Tochter. „Marā bebūs (baraye acherin bar) – Küss mich (ein letztes Mal) Ein Dichter hatte damals den Brief des hingerichteten Schahoffiziers zu Strophen geformt und vertont. Daraus wurde ein Widerstandslied gegen das Schahregime. Nun singen wir es erneut gegen die Unterdrückung durch einen selbstgerechten „Gottesstaat“: 

Küss mich ein letztes Mal,
es bleibt mir keine Wahl,
das Schicksal trägt mich fort
an einen fernen Ort.

Gott schütze dich, mein Kind,
ich fliege mit dem Wind.
Du sollst nicht um mich bangen,
vergangen ist vergangen.

Küss mich ein letztes Mal.
Ich reise durch die Dunkelheit
und überwinde Raum und Zeit.
Ich habe in der finstren Nacht
die Flamme zu dem Berg gebracht.

Der Widerstand muss leben,
ich hab alles gegeben.
Wir kämpfen Seit an Seiten
in diesen schweren Zeiten.

Küss mich ein letztes Mal.
Mein Blümchen, schau mir ins Gesicht.
Ich bitt dich, weine um mich nicht!
Ich nehm’ nun Abschied in der Nacht,
mein Herz hält ewig bei dir Wacht.

Wir sehn uns in der andren Welt,
schau nur hinauf zum Sternenzelt!
Wein nicht, für mich ist das nur Qual,
Komm, Kind, küss mich ein letztes Mal.


Sechs Jahre Krieg im Iran und kein Ende abzusehen. Doch meine Freundin Mahvasch schreibt: „Sorge dich nicht, Bary. Der Krieg heult zwar ab und zu auf, wie ein verwundetes Tier, doch wir haben wohl das Schlimmste überstanden. Die Soldaten sind müde, keiner will mehr kämpfen. Wenn du kommst, wirst du nicht unbeschwert, aber nahezu gefahrlos reisen können.“ Dem Krieg Gefahrenstufen zu geben, so verwegen können wohl nur die Menschen sein, die mit ihm leben müssen.

Nach drei Monaten Hoffen und Bangen erhalte ich in der Botschaft tatsächlich den ersehnten Stempel. Vor Freude und Erleichterung drücke ich einen Kuss darauf. „Dast-e schoma dard nakonad – Möge Ihre Hand niemals schmerzen“, bedanke ich mich bei dem Beamten. Ein leichtes Lächeln verschönt seine herben Gesichtszüge. „Safar becheyr Gute Reise!“, wünscht er mir. Ich schwebe glücklich davon. Salam[2] Iran! Ich komme, denke ich beglückt.

Westliche Maschinen fliegen den Teheraner Flughafen aus Sicherheitsgründen kaum an. Direktflüge in den Iran sind darum überteuert. So beherrscht IRAN-AIR eine Monopolstellung und nutzt sie weidlich aus. Um die hohen Flugkosten einzusparen, kommt mir die Idee, über die Türkei in den Iran einzureisen. Allerdings müsste ich im Landesinnern zweimal umsteigen. Anstrengend, aber nicht zu ändern. Mein Flugendziel ist Erzurum. Von dort aus will ich auf dem Landweg zur iranischen Grenze weiterreisen. Bis zur endgültigen Ankunft im Iran werde ich wohl fast 24 Stunden unterwegs sein. Was soll’s? Gesagt – getan. Während ich meine Koffer packe, beschleicht mich trotz Vorfreude ein etwas mulmiges Gefühl. Iran ist eine große Wunde und ich reise mitten hinein.  



[1] Dschinn: Geist, Dämon

[2] Salam: Frieden. Hier heißt das so viel wie: Hallo Iran!

 

 

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