Safranmond

Safranmond
© Barbara Naziri

Sharivar. Es ist September. Die Nacht öffnet ihre Schatztruhe. Auf dem samtenen Himmelskissen funkeln die Sterne wie Diamanten. Mitten unter ihnen thront majestätisch der Mond. Safranmond nennt man ihn hier in Persien, wenn er mit diesem magischen Licht die müde Welt verzaubert. Er ist der Blutmond, hört man ein Wispern, das tief aus dem Inneren der Erde kommt.

Im Raum ist es schwül. Geisterhaft flattern Schatten über die Wände. Schlaflos liege ich auf meinem Diwan. An meiner Seite ruht Balou. Ab und zu hebt sich der Vorhang über seinen Augen. Dann trifft mich sein glänzender Blick, in dem sich der Mond widerspiegelt. Wieso schläfst du nicht?, fragt er mich stumm. Er hat sich auf eines der vielen Kissen zusammengerollt, den Kopf auf den buschigen Schwanz gestützt. Seine Ohren sind wachsam gespitzt. Gedankenverloren kraule ich sein schimmerndes Fell. Kleine Funken verbergen sich darin, die unter meiner streichelnden Hand knistern. Balou schnurrt: Hör nicht auf. Ja, so ist es gut. Noch einmal hinter dem Ohr! Genüsslich reckt er mir sein Köpfchen entgegen. Seufzend blicke ich durch die geöffneten Gardinen. Dort oben wacht mein alter Freund. Der Schlaf versucht meine Glieder zu fesseln, streicht über meine brennenden Augen. Doch mein Geist lässt sich nicht täuschen. Wie dunkle Schmetterlinge flattern meine Gedanken durch Raum und Zeit. Unruhig wie ein rastloser Falter flattert auch mein Herz.

Ich stehe auf und öffne die Fensterflügel. Mit der nächtlichen Kühle dringt zarter Rosenduft herein. Die Rosen von Schiraz. Nichts duftet so betörend wie sie. Man sagt, die erste Rose der Welt sei hier erblüht. Komm, flüstert eine geheimnisvolle Stimme aus dem Garten und ich bewege mich willenlos wie eine Gliederpuppe hinaus. Der Garten wirkt geheimnisvoll. Mondlicht ruht auf den Blumenkelchen, die sich, halb geöffnet, nicht dem Schlaf ergeben. Das Plätschern des nahen Springbrunnens ähnelt dem Klang kleiner Silberglocken. Die Zikaden schweigen in dieser Nacht. Selbst die Nachtigall ist verstummt. Erwartungsvolle Stille liegt auf allem. Ist Stille greifbar? Mir ist, als wolle sie mich umgarnen. Ein Schatten lässt sich neben mir nieder. Leuchtende Augen schauen zu mir empor. Balou. Noch ein Blick, dann duckt er sich. Mit einem Sprung ist er draußen und von der Dunkelheit verschluckt. Der Atem der Nacht wedelt die Palmenfächer hin und her, die sich wie im Tanze wiegen. „Komm zu mir“, scheint sie zu raunen.

'Alter Mann da oben', flüstere ich, 'kannst du mich hören? Ich bin es, das Kind der vier Winde, das nirgendwo hingehört. Wie kann ich mich jemals deinem Bann entziehen? Will ich es denn überhaupt. Schon seit Kindertagen, als ich meine Geheimnisse mit dir teilte, und später, als ich dich zu meinem Verbündeten machte, weil ich niemandem mehr vertraute. Agadjan, mein liebes Väterchen. Das allabendliche Ritual des Geschichtenerzählens, ohne das ich mich weigerte einzuschlafen. Atemlos lauschte ich Agadjans Erzählungen, die heute noch in mir weiterleben und dir, lieber Mond, Leben einhauchten. War es erst gestern, als Agadjan mich lächelnd anschaute und auf meiner Bettkante saß? Erzähle, Agadjan, erzähle mir die Geschichte von der Liebe zwischen Sonne und Mond!

Der Mond, der in ewiger Finsternis lebte, bewunderte schon seit langem das strahlende Geschöpf, die Sonne. Zogen sie am Himmel aneinander vorbei, schauten sie sich an, ohne ein Wort zu wechseln. Doch bei jeder Begegnung ging ein Leuchten über das Antlitz des Mondes. Die Sonne erblickte darin Sehnsucht und Einsamkeit. Hatte sie zuerst Mitleid mit dem Gesellen der Nacht, so fühlte sie sich im Laufe der Zeit immer näher zu ihm hingezogen und mittlerweile fieberte sie dem kurzen Moment ihrer Zusammenkunft entgegen. Dem Mond ging es nicht anders. Jedes Mal, wenn die Sonne ihn mit ihrem Glanz streifte, durchströmte ihn ein tiefes Glücksgefühl.

Eines Tages nahm er seinen ganzen Mut zusammen und rief ihr zu: „Du wunderschöne Lichtgestalt! Du Spenderin des Lebens! Auf Deinen Spuren wachsen Blumen und die Vögel des Himmels preisen Dich in den schönsten Tönen. Jedes Mal, wenn dein Licht mich berührt, weicht die Kälte aus mir.“

Da antwortete die Sonne: „Deine Worte klingen zart wie die Töne der Ney und erfrischend wie der klare Quell, der sich seinen Weg durch Berge und Täler bahnt. Schon lange habe ich auf sie gewartet. Nun, da Du sie ausgesprochen hast, bin ich zutiefst beglückt.“ Und sie strahlte heller als je zuvor.

Von nun an ließen sie ihre Sehnsucht sprechen, wenn sie sich trafen. Ungeduldig harrten sie auf den kurzen Augenblick ihrer Begegnung. Aus dem Gefühl der Vertrautheit wurde bald mehr.

„Ich bin in Liebe zu dir entbrannt“, sagte die Sonne eines Tages zum Mond, „und verzehre mich nach dir. Die Tage ohne dich scheinen mir endlos und begegne ich dir in der Nacht, vergeht die Zeit wie ein Atemzug.“

„Auch ich spüre Liebe“, antwortete er sanft. „Doch wie soll es weitergehen? Du bist ein Geschöpf des Lichtes und ich bin der Kamerad der Dunkelheit.“

„Die Liebe“, sprach die Sonne, „kennt weder Licht noch Dunkel. Die Liebe ist.“

„Liebe ist Wärme“, antwortete der Mond. „Doch in der Finsternis, in der ich lebe, ist es kalt.“

Bedrückt gab ihm die Sonne Recht und zog sich zurück. In ihrer unerfüllten Liebe glühte sie wie im Fieber und verbrannte ein Stück Land unter sich. Tiere und Pflanzen verdursteten, alles Leben erlosch und vertrocknete. Zurück blieb eine endlose Öde und wurde zur heißesten Wüste der Erde, der Salzwüste Lut. Hier trug die Sonne ihre hoffnungslose Liebe zu Grabe.

Der Mond litt und drehte in der Düsternis seine einsamen Runden. Wenn er am Himmel erwachte, ging die Sonne schlafen und umgedreht. Ein hartes Schicksal für zwei Liebende. Sar newesht sagte man im alten Persien, was so viel bedeutete wie auf die Stirn geschrieben. Sollte ihre Liebe wirklich aussichtslos bleiben?

„Gib mir ein Zeichen deiner Liebe“, bat sie der Mond verzweifelt, als er ihr wieder begegnete. Seine Stimme klang schwach. „Schau, ich vergehe vor Verlangen.“ Er hatte tatsächlich abgenommen und war schmal wie eine Sichel geworden. „Mir ist so einsam in der Dunkelheit. Kein Stern vermag mich zu trösten und selbst meine Freundin, die Nachtigall, kann mich nicht mit ihrem Gesang aufheitern.“

„Mein Geliebter, gerade wollte ich zu dir eilen“, erwiderte die Sonne. „Ohne dich brannte in mir ein furchtbares Feuer, das kein Leben schuf sondern nahm. Ich sah keinen Ausweg, etwas gegen das vernichtende Brennen zu tun. Als ich schon annahm, ich müsse meine Liebe zu Grabe tragen, kam mir die Erleuchtung in Form eines Steins. ’Frau Sonne’, sprach er zu mir, ’ich danke euch für eure beständige Wärme, die mir die Kühle meines Leibes fernhält. Ihr wärmt mich, denn selbst bin ich nicht dazu imstande.’ Da dachte ich, was ich dem Steinchen gab, kann ich dir nun tausendfach geben. Schau, ich habe so viel davon in mir, dass es für uns beide reicht.“

Ein heiteres Licht ging von ihr aus, das wärmend und beruhigend wirkte. Sie öffnete ihren Leib und die Strahlen, die aus ihr hervorsprangen, berührten den Mond.

„Nimm das Zeichen meiner Liebe“, flüsterte sie. „Es wird dir auf deinem ruhelosen Weg Hoffnung geben, auch wenn ich dich nie umarmen kann. Ich werde dich zum Leuchten bringen, weil du um meine Liebe weißt.“

So geschah es, und ihr Bund war besiegelt. Wisse, die Nächte, in denen der Mond sich füllte und den Menschen in dunkler Nacht den Weg wies, waren sie einander besonders nah.'

Tränen vernebeln meinen Blick. Die Erinnerung umklammert mich, gibt mich nicht frei. Überirdisch schön leuchtet der Safranmond. Wie eine Liebkosung berührt sein Licht meine Wangen, als wolle er mich trösten. Doch mein Herz bleibt unberührt. Tief darin ruht eingeschlossen die Einsamkeit, die sich durch nichts vertreiben lässt. Es ist nicht der Mond, der mir in dieser Nacht den Schlaf raubt. Ich bin die Gefangene meiner Gedanken, die mich nicht zur Ruhe kommen lassen.

Eingebrannt in meine Eingeweide jene andere Vollmondnacht. Ich höre Stimmen, Schreie, Schüsse. Das Gespenst der Revolution tobt unter dem Herbstmond. Bleiche Schleier senken sich über uns, denen schwarze folgen. Die Freiheit wird zu Grabe getragen. Dunkle Nächte wechseln mit dunklen Tagen. Die Tage werden kürzer, die Nächte länger. Fahles Licht ohne Wärme. Wintermond. Hinter den Gittern verdorren die Blumen und Bijan verschwindet im Nichts. Weg, als hätte es ihn nie gegeben.

Lieber Mond, was hast du gesehen? Gibt es keine Antwort für einen Verlust?

Agadjan altert über Nacht. Sein Haar wird schlohweiß, seine Gestalt gebeugt. Kummerfalten graben sich um seine Mundwinkel. Die Augen blicken trübe. Bijan, wohin ging deine Reise? Die Zeit des Geschichtenerzählens ist zu Ende. Der Mann im Mond ist tot.

Wieder leuchtet der Safranmond. Sieht Safran, vermischt mit ein paar Wassertropfen, nicht aus wie Blut? Ist das ein Omen? In einer Vollmondnacht trat er seine letzte Reise an. Ganz allein. Niemand begleitete ihn, hielt seine Hand. Kurz zuvor saß ich noch an seinem Bett, ahnte nichts. Gemeinsam schmiedeten wir Pläne, bauten Wolkenschlösser weit hinter dem Horizont. Du hast eine Zukunft, sagte er. Ich spürte nicht, dass er keine mehr hatte. Warum übersah ich die Müdigkeit, die sich in den Winkeln seiner Augen verkrochen verkrochen hatte, um nie wieder zu weichen. Mit meinen sechzehn Jahren sah ich nur das Leben und erwartete nicht den Tod.

Ich fühle mich schuldig.

Der Nachtwind küsst mein Haar. Von Ferne ruft der Imam zum Gebet. Nur er und ich scheinen diese magische Nacht zu durchwachen - und der allwissende Mond, mein verschwiegener Verbündeter.

 

 

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