Verdattelt oder Das Wunder von Bam

Verdattelt – oder das Wunder von Bam
© Barbara Naziri

   

Die Datteln von Bam sind die wohlschmeckendsten im ganzen Orient. Wo liegt Bam, fragt ihr mich jetzt? Die Oasenstadt Bam liegt an der Seidenstraße im Südosten von Teheran, umgeben von einem Gürtel aus Palmenhainen und Pistazienplantagen. Hier lebt Nasrin mit ihrem Mann, dem Kamelhändler Youssef. Viele Jahre sind sie nun schon verheiratet. Kinder blieben ihnen leider versagt. Mitunter trennt das die Menschen, wenn sich ihr Wunsch nicht erfüllt, aber Nasrin und Youssef hat es miteinander verbunden. Sie sind sich zugetan wie am ersten Tag ihrer Ehe. Alles ist also perfekt. Alles?

Die Geschäfte gehen gut, der Tisch – pardon, das Sofreh* (im Iran isst man mitunter noch am Boden) ist stets gut gedeckt, die Sonne scheint jeden Tag strahlend vom wolkenlosen Himmel, und nachts schimmern am Firmament unzählige Sterne. Ja, Nasrin und Youssef sind eigentlich ausgesprochen glücklich, wäre da nicht ein Verlust zu verzeichnen, nämlich der Verlust der fleischlichen Vereinigung, die Vollendung, der jeder Liebende entgegen strebt. Leider spielt sich auf dem abendlichen Lager rein gar nichts mehr ab. Wie weggewischt sind die Nächte, in denen die Zärtlichkeit und Wolllust das Lager mit ihnen teilte. 

Die Gewohnheit, diese alte Närrin, hat sich ganz heimlich in das kleine Haus geschlichen. Wie schaut es darin aus? Sie leben in Harmonie aber die Spannung hat sich auf und davon gemacht. Youssef kommt allabendlich müde nach Haus, zieht an der Tür die Schuhe aus und duscht sich danach ausgiebig den Wüstenstaub von der Haut. Dann setzt er sich, nach frischer Seife duftend, zu seiner Nasrin, die ihn schon mit einem liebevoll gedeckten Sofreh* erwartet. Der Duft von herrlichem Gilan-Reis und geröstetem Lammfleisch, gut gewürzt mit Koriander und Thymian, steigt ihm in die Nase und das Wasser läuft ihm im Munde zusammen. Nasrin bringt Lavash. Das hauchdünne tellerrunde Fladenbrot hat sie selbst in ihrem Ofen gebacken. Youssef liebt es, wenn er darin Reis, Fleisch und Salat einwickelt und es sich in großen Happen in den Mund schiebt. Dazu gibt es Dough, ein Yoghurtgetränk, das mit frischen Kräutern gewürzt ist.

Im Hayyat steht ein alter Granatapfelbaum. Nassrin hat die schönsten Äpfel für Youssef gepflückt und trägt sie nun in einer Schale hinein. Dem Granatapfel sagt man nach, er sei direkt aus dem Paradies auf die Erde gelangt. Er ist ein seltsamer Apfel mit einer lederartigen Haut von gelber oder roter Farbe. Seine Schönheit wird erst offenbar, wenn man ihn öffnet. Tiefrot glänzen die saftigen und etwas säuerlichen Kerne wie herrliche Edelsteine in einem Schatzkästchen. Im Orient erzählt man sich, er wirke aphrodisierend. Doch scheint es nur ein Gerücht zu sein, denn Youssef’s kleiner Freund scheint das nicht zu spüren. Er liegt im Dauerschlaf. Youssef klopft mittlerweile den Apfel weich, schlägt ein kleines Loch hinein und saugt die Flüssigkeit aus. Dann lehnt er sich zufrieden zurück und faltet die Hände über dem Bauch. Ein kleines Schwätzchen, ein bisschen Fernsehen und dann trollt er sich ab ins Bett.

Heute Abend folgt Nasrin ihm nicht sofort ins Schlafgemach. Nachdenklich sitzt sie auf dem Pushti* und zieht die Stirn kraus. Sie überlegt, wie sie ihre Nächte wieder beleben kann. Für Enthaltsamkeit fühlt sie sich einfach noch zu jung. „Schlafen“, denkt sie, „kann ich unter der Erde noch lange genug. Der Tod schläft leise.“ Youssef schläft laut. Jede Nacht sägt Youssef an den Wäldern Persiens (und davon gibt es nicht allzu viele). „Ach“, denkt Nasrin wehmütig, „wann haben wir eigentlich aufgehört, uns zu umarmen? Wann hat er mich das letzte Mal geküsst?“ Nach wie vor ist er ihr ein liebevoller Ehemann, höflich und rücksichtsvoll. Doch in einem wünscht sie sich ein bisschen mehr Eifer, und das sind die ehelichen Vergnügungen, die sie gemeinsam früher nie als Pflicht angesehen haben. Sie seufzt. Ihr bleibt noch eine Möglichkeit, die sie bisher noch scheute. Aziz, die weise Frau.

Am nächsten Tag besucht sie Aziz. Nasrin hat ihr einen Korb mit köstlichen Lebensmitteln mitgebracht, denn Aziz nimmt kein Geld. Das einzimmrige Häuschen ist nur mit dem Nötigsten eingerichtet: ein paar Pushtis, ein kleines Tischchen, ein kleiner Korsi*, auf dem sie kocht und eine zusammengerollte Matratze. Der Boden ist blitzblank und mit einem Kelim bedeckt. Aziz reichts zum Leben. Sie öffnet ihr die Tür, wie immer in einem roten Kleid. 

„Salam, Aziz-jan“, grüßt Nasrin und betritt das Häuschen. 
„Sei willkommen, Nasrin-jan“, antwortet Aziz mit sanfter Stimme. „Komm setz dich und trinke einen Chaï* mit mir.“ Nasrin hockt sich zu ihr auf den Boden.

Man erzählt sich, dass Aziz einst ihren Liebsten, der sich auf einer Reise befand, in einem roten Kleid erwartete. Doch er kehrte nie zurück. Manche Leute fragen sich, ob sie immer noch wartet. Denn sie trägt seitdem nur rote Kleidung. Aziz ist klein, steinalt und geht gebückt. In ihr Gesicht hat das Leben tiefe Furchen gegraben. Ihr schlohweißes Haar ist erstaunlich voll und zu einem Knoten zusammengebunden. Aber ihre Augen sind wach und klar. Sie vermögen den Menschen in die Seele zu schauen. Die Leute von Bam behaupten, sie sei schon hundert Jahre alt und weiß für jeden Fragenden Rat. Sie braute in ihrem langen Leben so manches Kräutlein, das erstaunliche Wirkungen erzielte und wahre Wunder vollbrachte.
 

Aziz mustert Nasrin aufmerksam. Dann nimmt sie ihre Hände. „Was begehrt dein Herz?“, fragt sie sanft. Nasrin errötet kurz, doch dann reißt sie sich zusammen.
„Du kennst mich seit meiner Kindheit“, beginnt sie stockend. „Du weißt, Youssef und ich haben aus Liebe geheiratet, was sehr selten vorkommt bei arrangierten Ehen. In all den Jahren haben wir unsere Liebe festgehalten. Aber es ist auch etwas verloren gegangen.“
Aziz schaut sie geduldig an und wartet. Langsam greift sie nach dem Teeglas. Genüsslich schlürft sie ihren Chaï und legt sich dazu ein Stückchen Zucker auf die Zunge. „Es ist so“, fährt Nasrin fort, „er kann nicht mehr oder er will nicht mehr.“ Dann senkt sie den Blick.

Aziz schaut sie aufmerksam an. „So, so“, lächelt sie nach einer Weile, „ich verstehe.“ Dann schweigt sie wieder. „Weißt du, mein Kind“, beginnt sie, „manchmal fehlt dem Manne etwas, das ihn anregt. Sie überlegt eine Weile, dann steht sie auf. „Vielleicht kannst du ihn mit einem ganz einfachen Mittel erwecken. Warte einen Moment.“ Sie verlässt das Haus. Nach einer Weile kommt sie mit einem Körbchen zurück. 

Aufmerksam richtet sich Nasrin auf. Sie klebt förmlich an den Lippen der alten Frau. "Schau her,ikch habe hier ein Körbchen feinster Bam-Datteln von meinem Bau. Die gebe ihm heute Abend zum Essen. Du wirst sehen, es wird ihn verändern."

Nasrin starrt Aziz verdutzt an. "Datteln? Aber Aziz, wozu sollen die gut sein? Er gibt einen Kamelen tagtäglich davon zu fressen."


„Diese Datteln nicht“, lächelt Aziz. „Sie wecken die Begierde des Mannes. Schau nicht so ungläubig, liebes Kind. So Allah will, wird dein Mann dir bald nach ihrem Genuss wieder in großer Lust zur Seite liegen.“

Als Nasrin gehen will, hält Aziz sie noch zurück. „Gemach, mein Kind. Die Eile ist ein Schmetterling, der uns entgleitet.“ Sie reicht ihr ein Säckchen, das fein verknotet ist und aus dem dennoch ein feiner Duft entströmt. „Hier gebe ich dir ein paar gute Kräuter für die Nacht. Youssef wird sie nach dem Genuss der Datteln brauchen“, lächelt sie.

„Oh, einen Kräutertee wird er kaum trinken“, sagt Nasrin erstaunt, „Youssef trinkt nur schwarzen Tee.“

„Warte ab, liebes Kind. Du wirst ihn brauchen“, sagt Aziz und sieht sie eindringlich aus ihren hellen Augen an. „Denn er wird ihm wieder dazu verhelfen, ein ganzer Mann zu werden.“ Dann schließt sie die Tür.

Etwas verdattert macht sich Nasrin auf den Heimweg. „Niemals“, denkt sie, „wird Youssef dieses ganze Körbchen Datteln verspeisen.“ Wie soll ich ihn nur dazu bringen, davon zu essen. Zu Hause kommt ihr die rettende Idee. Youssef liebt Süßes über alles. Sie wird einen Dattelkuchen backen und sonst nichts dazu reichen, damit ihn andere Dinge nicht sättigen. Hochrot vor Eifer macht sie sich in der Küche an die Arbeit. Nur die besten Zutaten wandern in den Kuchen wie gute Butter, Orangenblütenwasser, Orangenschale, Safran aus Meshad, feinster Zucker und zartes Mehl, eine kleine Prise Salz und natürlich gestoßene Aprikosenkerne. Dann zerkleinert sie die Datteln und verknetet den Teig. Als der Kuchen aus dem Ofen kommt, duftet es im ganzen Haus. Gerade rechtzeitig, denn Youssef kommt in diesem Moment heim.

„Oh, meine Liebste, das duftet ja herrlich“, ruft er überrascht aus. Nachdem der Wüstensand abgewaschen ist, setzt er sich eilends zu Nasrin und speist nach Herzenslust, während er mit Scherbet* nachspült. Nasrin nascht ab und zu, aber den Hauptanteil überlässt sie Youssef. Sie nötigt ihn immer wieder, selbst als er längst satt ist. „Nasrin-jan, habe Dank für den leckeren Kuchen. Deine Hand soll niemals schmerzen. Aber mein Magen ist schwer wie ein Stein“, klagt er am Ende. „Ich lege mich zur Ruhe!“ Nasrin kann ihre Enttäuschung kaum verbergen. Wenig später erklingt lautes Geschnarche zu ihr herüber. „Sar-Newesht“*, denkt sie ergeben und macht sich an den Abwasch.

In der Nacht wird sie aus tiefstem Schlaf geschreckt. Youssef wälzt sich hin und her. Er hält sich die Hände über den Leib und stöhnt. „Nasrin-jan, ich glaube, ich muss sterben“, jammert er. Und dann geht’s los. Jede zwei Minuten rennt er zur Toilette. Er hat so einen schlimmen Durchfall, dass er glaubt der Darm, das Zentrum des Lebens, krieche ihm aus seinem Körper, ja als würde sein Innerstes nach außen gekehrt. Am Morgen ist er so schwach, dass er kaum noch aufstehen kann. 

Da fällt Nasrin der Kräutertee ein. Sie kocht Youssef einen großen Krug davon. „Trink“, fordert sie ihn auf, „der Tee von Aziz und wird dir helfen. Es ist ein Wundertrank – speziell für den Mann.“ Youssef’s Augenbrauen schnellen einen Moment in die Höhe, bevor er sich wieder seinem Leiden hingibt.

Innerlich nagt an ihr ein heiliger Zorn auf Aziz. Wie konnte sie nur auf die Alte hören? Hoffentlich hilft der Tee, sein inneres Gleichgewicht wieder herzustellen. Glas für Glas dringt wieder Farbe in Youssef’s Gesicht. Nasrin weicht nicht von seiner Seite. Sie legt seinen Kopf in ihren Schoß und streichelt ihm zärtlich über das Haar. „Oh, mein Liebster“, flüstert sie leise, „du bist mir alles.“

Als Youssef gegen Abend aufwacht, fühlt er sich stark wie ein Bär. „Nasrin-jan“, ruft er sie an sein Lager, „ich fühle mich wie neugeboren.“ Während er sie mustert, verändert sich sein Blick. Eine tiefe Sehnsucht liegt darin. Er streckt die Hand nach ihr aus. „Komm, Geliebte, teile das Lager mit mir.“

Von draußen schwebt der betörende Duft des Jasmin in den Raum. Die Nachtigall singt im Garten eine zarte Melodie. Drinnen hält die Sinnlichkeit Einzug zusammen mit ihrer Schwester der Zärtlichkeit. Die Gewohnheit schleicht sich in dieser Nacht geschlagen von dannen.

Am Morgen erwacht Nasrin und hört Youssef im Bad singen. Sie kniet nieder und richtet ihren Blick nach Osten. „Chodah*, ich danke dir aus tiefsten Herzen“, flüstert sie glücklich, „dir und Aziz, die du in diese Welt schicktest, Gutes zu tun.“

Dann macht sie sich auf, um Aziz zu danken. Aziz öffnet lächelnd die Tür. „Liebes Kind, du brauchst nichts sagen. Deine Augen leuchten wie die Sterne des Himmels.“ Nasrin küsst ihr die Hand. „Wie kann ich dir nur danken, liebes Mütterchen? Ich habe dir wieder ein Körbchen mit Essen mitgebracht.“

„Mehr benötige ich nicht, liebes Kind. Bete für mein Heil, dann ist mir geholfen.“

„Aziz-jan, darf ich dich fragen, wofür die Datteln waren?“

 Aziz lächelt. „Die Datteln haben ihm geholfen, den bösen Dschin* loszuwerden, der euch eure Liebe neidete. Der Kräutertrank hat sie wieder erweckt.“ 

 Als Nasrin gegangen ist, schmunzelt Aziz. Während sie neue Kräuter zubereitet, fällt ihr Blick auf ein paar Datteln, die auf dem Teller liegen. „Ach“, seufzt sie, und ein weises Lächeln huscht über ihre Lippen, was wäre mein Leben ohne den Aberglauben!“

 

*Pushti = Sitzkissen, geknüpft wie ein Teppich
*Sofreh = Tuch oder Platte ohne Beine
*Korsi = Holzkohleofen
*Chaï = persischer Tee
*Scherbet = Saftgetränk
*Sar-newesht = Schicksal (direkte Übersetzung aus dem Persischen: Das, was auf der Stirn geschrieben steht)
*Chodah = Gott
*Dschin = Geist

 

 

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